Dem Sieg auf der Spur

Noch dringt kein Morgenlicht in das Ende des Antholzer Tales vor. Vier Stunden vor dem Weltmeisterschaftsrennen im Biathlon herrscht in den Holzboxen, die eine große Halle einnehmen, bereits emsige Betriebsamkeit. Überall drangvolle Enge. In der Wachskabine der Deutschen Mannschaft lagert ein Großteil der knapp 500 Paar Ski der 14 deutschen Biathleten. Wie nach einer eingespielten Choreografie wuseln fünf Skitechniker um vier Wachsböcke und eine Wachsbank herum und präparieren Ski. Das Wachs vom Vortag abziehen, Grundwachs auftragen, Finishwachs mit einer Art Bügeleisen glätten, Strukturen einbringen. „Wenn alle Rädchen richtig ineinander greifen, dann tickt die Uhr“ sagt Skitechniker Thorsten Thren und meint damit nicht nur das Wachserteam.

Der aktuelle Wetterbericht – speziell von einem beauftragten Institut erstellt – ist bereits eingetroffen. Seinen Daten, vor allem die Vorhersage von Temperaturen und Schneefallwahrscheinlichkeit, entscheiden, welche Ski die Techniker aus dem riesigen Arsenal herausgreifen. Noch werden die wertvollen Rennski nicht angerührt. Mit Brettern, die ausschließlich zum Testen dienen, gehen die Techniker auf die Strecke. Wieder in der Wachskabine tauschen sie die Ergebnisse aus und entscheiden für jeden Sportler individuell: Das ist der beste Ski, jenes die beste Wachmischung und mit dieser Oberflächenstruktur läuft der Ski am besten. Kürzel wie DSV 2.1 schwirren durch den Raum. Erst jetzt werden die Bretter präpariert, die den Weltmeistertitel bedeuten, präpariert.

Noch sind es zwei Stunden bis zum Start der Damen. Kati Wilhelm, Martina Glagow, Andrea Henkel und Magdalena Neuner erscheinen an der Strecke. Zwischen vier und sechs Paar Ski bekommt jede Biathletin von den Technikern zum Testen vorgelegt. Akribisch probieren sie die Varianten. Welcher Ski schafft vom selben Berg die weiteste Strecke, welcher hat die beste Spurtreue? Nur ein Paar, das beste bei den herrschenden Schneeverhältnissen, schafft den Weg zu den Offiziellen der Rennleitung, die jeden Ski mit einem Stempel für das Rennen markieren. Mit mindestens einem dieser Ski müssen die Sportler ins Ziel kommen. Laut Reglement darf also nur einer bei Skibruch gewechselt werden.

Das Laufen ist nur ein Part des Biathlon. Auch am Schießstand wird vor dem Wettkampf intensiv gearbeitet. Anschießen heißt die Vorbereitung mit dem Kleinkalibergewehr. Kati Wilhelm schießt eine erste Serie und bespricht die Treffergenauigkeit mit dem Bundestrainer. Uwe Müssiggang hat mit dem Fernglas genau erkannt wo die Patronen einschlagen. Exakt in der Mitte der Zielscheiben, eher zu hoch oder zu tief. Er verfolgt auch die Entwicklung des Windes. Kati Wilhelms Trefferbild weist eine leichte Rechtstendenz auf. Da der Wind nur mäßig weht, verstellt sie die Zieleinrichtung der Waffe, den Diopter, nur um eine Raste.

Frank Luck, beobachtet nach dem Ausscheiden als aktiver Sportler, das Geschehen als Eurosport-Kommentator. „Zum Glück ist es heute nicht zu kalt“ sagt Deutschlands erfolgreichster Biathlet „Denn etwa ab Minus 12 Grad trennt sich beim Schießen die Spreu vom Weizen. Dann werden extrem hohe Ansprüche an Gewehr und Munition gestellt. Weil Biathlon bis Temperaturen von Minus 20 Grad stattfindet, testen im Sommer Waffentechniker in Kältekammern Gewehrläufe und Munition auch unter Extrembedingungen aus. Für unterschiedliche Wettkampf­bedingungen filtern sie die jeweils beste Munition, bis hin zur besten Charge heraus – und die wird aus­schließlich im Wettkampf eingesetzt.“

Der Erwartungsdruck ist enorm

Im Stadion, das 12000 Zuschauer fasst, werden die Rufe der Fans immer lauter. „Es lastet ein enormer Erwartungsdruck auf der deutschen Mannschaft“, sagt Kati Wilhelm, die auf der Weltmeisterschaft in Antholz bislang noch keine Medaille auf ihrem Konto verbuchen konnte „Dass Magdalena Neuner am Anfang der WM zwei Medaillen geholt hat, war gut für uns alle. Die Mannschaft ist ungeheuer wichtig, auch weil Sportlern, bei denen es zeitweilig nicht ganz so gut läuft, der Druck genommen wird“

Biathlon hat seine Ursprünge im Militärsport und entwickelte sich erst ab den 70iger Jahren von einer exotischen Randsportart zum Publikumsmagneten. Inzwischen ist es in Deutschland zur beliebtesten Wintersportart avanciert. „Dass unser Sport inzwischen einen so hohen Stellenwert hat, ist ungeheuer motivierend“ meint Kati Wilhelm „In vollen Stadien bekommen wir eine ganz tolle Anerkennung zu spüren.“ Sie freut sich auch über die Unterstützung von anderer Seite: „Biathlon wird auch immer interessanter für Sponsoren“ sagt sie„ Dabei ist es besonders schön, wenn es Sponsoren gibt, die seit Anfang an dabei sind, wie E.ON-Ruhrgas, die mich bereits viele Jahre begleiten“. Seit 1987, als Biathlon noch nicht die Aufmerksamkeit von heute genoss, ist das Unternehmen Hauptsponsor bei Weltcuprennen.

Schuss aus der Startpistole. Es ist ein Massenstart mit Beteiligung der Massen. Die 30 schnellsten Biathleten der Welt preschen mit kräftigen Stockschüben an der vollbesetzten Tribüne vorbei. Anfeuerungsrufe aus tausenden Kehlen hallen durch das Tal. 23000 Zuschauer sind für dieses Spektakel an die Piste gekommen. Mit 1600 Metern ist Antholz der am höchsten gelegene Weltcup-Ort. Kati Wilhelm verlässt das Stadion als Erste, geht auf die 12,5 Kilometer lange Strecke. Peter Sendel, bis vor zwei Jahren selbst im Biathlon-Spitzenkader, fiebert mit dem deutschen Team, dem er eine besondere Stellung beimisst:  „Die Bedeutung des Biathlon steht und fällt mit den Erfolgen der deutschen Mannschaft“ meint er „Ich glaube, dass auch andere Nationen sehr froh über die regelmäßigen Siege der Deutschen sind, denn dadurch profitieren alle: größeres Interesse, mehr Sponsoren, höhere Preisgelder. Keine Nation engagiert sich im Biathlon so stark wie die Deutschen“

Fortschritte bringen Motivation

Zweites Liegendschießen. Sechs Kilometer sind zurückgelegt. Kati Wilhelm atmet schwer. Ein 50 Meter entferntes schwarzes Rund von 4,5 Zentimeter Durchmesser ist durch Diopter und Ringkorn anzupeilen – ohne jeglichen Vergrößerungsfaktor. Gleich der erste Schuss geht daneben, Kati Wilhelm muss in die Strafrunde. Zuschauer sind vom Biathlon vor allem wegen der ungeheuren Körperbeherrschung der Sportler fasziniert. Nach temporeichen Runden sind sie in der Lage ihre Atmung und Muskulatur zur Ruhe zu bringen und fünf kleine Scheiben zu treffen. Neben Schnelligkeit und Präzision gehört eine gute Konzentrationsfähigkeit dazu. Jeder hat dazu sein eigenes Rezept trotz Rennstress die Ruhe zu bewahren – was bei hohem Erfolgsdruck besonders schwierig ist. Kati Wilhelm: „Mentale Stärke holt man sich am einfachsten durch Erfolge. Wenn es einmal nicht so gut läuft, verarbeite ich solche Rückschläge positiv. Ich analysiere die Fehler und versuche sie gleich am nächsten Tag auszumerzen. Solche kleinen Fortschritte geben mir dann Motivation“

„Momentan ist die Weltspitze so eng beieinander, dass jedes Detail über Sieg oder Niederlage entscheiden kann“ bestätigt Peter Sendel dieses Vorgehen. An den vielen kleinen Fortschritten, die letztendlich den großen Erfolg ausmachen ist ein ganzes Team beteiligt. Sechs Techniker halten das Material in Schuss, ein Mannschaftsarzt kümmert sich um die Gesundheit der Sportler und zwei Physiotherapeuten um ihre muskulöse Fitness. Jeweils ein Trainer und Cotrainer steuern die Damen- und die Herrenmannschaft und entscheiden über die Renntaktik. Uwe Müssiggang und Frank Ullrich sind über Jahre hinweg die prägenden Trainerpersönlichkeiten in der Weltelite, die es immer wieder schaffen die unterschiedlichsten Sportlernaturen zu motivieren und zu Spitzenleistungen zu bringen.

Intelligente Datenauswertung hilft Siegen

Bei der genauen Analyse von sportlichen Leistungen werden die Trainer von wissenschaftlichen Mitarbeitern unterstützt. Dr. Jürgen Wick vom Institut für angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig gehört zum Team. Er füttert seinen Laptop ständig mit Trainingsdaten und hat im Vorwege die WM-Streckenabschnitte, Anstiege und Abfahrten, ausgewertet. Wick weiß um die Tücken am Schießstand: „Die Windverhältnisse können sich im Minutentakt ändern.“ Mit Stoppuhr und Video beobachtet er (auch die Konkurrenz), zerlegt die Wettkampfzeiten jedes Athleten in kleinste Abschnitte und entwickelt daraus Zeitendiagramme. Sie geben Hinweise darauf, wo Sekunden liegen geblieben sind und bilden die Grundlage für die tägliche Rennanalyse mit den Trainern. „Die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Sportlern ist einzigartig in der Welt“ meint Jürgen Wick.

Stefan Schwarzbach ist das Teammitglied mit dem unentwegt klingelnden Handy. 400 aus aller Welt nach Antholz angereiste Journalisten wollen vom Pressesprecher mit Informationen über die deutsche Mannschaft versorgt werden. „Unsere Pressearbeit will beiden Seiten gerecht werden. Sie soll den Sportlern möglichst wenig Energie kosten und ihren Tagesablauf nicht stören. Gleichzeitig versuche ich den Journalisten Hilfestellung zu geben, dass sie an ihre Geschichten kommen und individuell mit den Sportlern sprechen können“ erklärt Stefan Schwarzbach. Doch das könnte bald an seine Grenzen stoßen. „Wir müssen darauf achten, dass bei dem ständig steigenden Medieninteresse das freundschaftliche und familiäre Miteinander, was Biathlon auszeichnet, nicht auf der Strecke bleibt. Wenn noch mehr auf uns einstürmt, wird es immer schwieriger individuelle Pressegespräche mit den Sportlern zu führen. Dann muss irgendwann der Selbstschutz greifen – denn bei allem Starruhm, ist das Wichtigste, das die sportliche Leistung stimmt – über Jahre hinweg“ warnt Stefan Schwarzbach.

Mannschaftsgeist ist Teil des Erfolgs

Ebenfalls über Jahre hinweg existiert ein hervorragender Mannschaftsgeist im deutschen Team. „Wenn man in Betracht zieht, dass Biathlon eigentlich ein Individualsport ist, gibt es ein erstaunliches Zusammengehörigkeitsgefühl. Auch Uwe Müssiggang, der auf 18 Jahre Erfahrung zurückgreifen kann, urteilt, dass er derzeit eine der harmonischsten Mannschaften betreut“ berichtet Stefan Schwarzbach. Das trotz des Nachrückens von 20jährigen Neulingen wie Magdalena Neuner und Katrin Hitzer in das Team von Arrivierten? „So etwas geht normalerweise nicht ohne Knarren im Gebälk vonstatten. Doch die beiden jungen Damen haben sich hervorragend eingeführt. Das Zwischenmenschliche stimmt und das fördert auch Spitzenleistungen“ so der Pressesprecher. 

„Es ist sicher nicht einfach für gestandene Sportler, wenn plötzlich so Jungspunde wie wir daher kommen und Wind machen“ meint Katrin Hitzer und spielt damit auf den Presserummel um Shootingstar Magdalena Neuner an „Es ist aber auch nicht einfach mit so jungen Jahren zu Arrivierten zu stoßen. Wir sind toll in die Mannschaft aufgenommen worden, in ein leistungsstarkes Team, in dem jeder in der Lage ist zu siegen – und das verbindet.“

Katrin Hitzer, die heute nicht startet, steht an der Strecke und reicht den vorbeistürmenden Kolleginnen Energiedrinks. Kati Wilhelm greift nicht zu. Sie ist auf den fünften Platz zurückgefallen und startet eine Aufholjagd, schiebt sich an der Russin Ekatarina Iourewa vorbei und jagt Natalia Guseva hinterher. Ganz vorn scheinen die Mannschaftskameradinnen Martina Glagow und Andrea Henkel uneinholbar. Die Grundlage für die Konditionsstärke der deutschen Frauen, die immer mehr Boden gegen die leistungsstarken Russinnen gut machen, wurde bereits im Sommer gelegt.

Täglich fünf Stunden Training

Zwischen 5000 und 6000 Trainingskilometer legen Biathleten im Jahr zurück: laufend, auf Skiern oder per Rollski. Ihre 1500 Kilometer, die sie auf dem Rad absolvieren, sind da nur zum geringen Teil mit eingerechnet. Täglich fünf Stunden hartes Training, darunter bis zu dreistündige Ausdauereinheiten, dazu noch Übungen im Kraftraum – dies bestimmt den Alltag eines Biathleten. „Mit dem Trainingsplan ist unser Tagesablauf völlig durchorganisiert“ berichtet Katrin Hitzer „Das ist auch richtig so, denn schließlich ist der Sport unser Beruf“ Eine weitere Pflicht eines Profisportlers: Pro Renntag etwa 1000 Autogrammkarten unterzeichnen.

Die Biathlon-Saison beginnt schon im Frühjahr. Die Skitechniker bekommen zwischen 30 und 60 Paar Ski pro Sportler geliefert, die es in Wintersporthallen oder auf Gletschern zu selektieren gilt. Unzählige Tests jedes noch so kleinen Ausrüstungsteils bestimmen den Sommer. Thorsten Thren, den alle nur Otto nennen: „Weil es keinem Ausbildungsgang für Skitechniker gibt, zählen nur persönliche Erfahrung und akribisches Ausprobieren“

Der Skitechniker hat die Qual der Wahl, denn eine ganze Reihe von Aspekten entscheiden über Sieg oder Niederlage: Die Bauart und vorfabrizierte Schliffe der Lauffläche bestimmen, ob der Ski für trockenen, normalen oder nassen Schnee geeignet ist. Eine weiche oder harte Spannung im Ski beeinflusst die Stabilität des Sportgerätes, ob es aus der Spur läuft, oder die Richtung beibehält. Und unterschiedliche Wachssorten – knapp 200 stehen zur Auswahl – sowie zusätzlicher Handstrukturen, die mit Hilfe von Rollen ins Wachs geprägt werden, beeinflussen die Gleitfähigkeit. „Es ist ähnlich wie beim Autoreifen“ erklärt Thorsten Thren „Bei nassem Schnee verdrängen die Strukturen überschüssige Feuchtigkeit. Bei kaltem, trockenem Schnee ist es umgekehrt. Dann kommt es darauf an, mit flächigem Wachs erst einmal einen Wasserfilm zu erzeugen. Denn ein optimaler Gleitfilm, macht die Laufschnelligkeit eines Skis aus.“

Die Lotterie mit dem Wachs

Wenn Thorsten Thren, der 2003 seine Laufbahn als aktiver Biathlet beendete, sich verwachst, sind die Sportler, die er betreut chancenlos. „Bei wechselndem Wetter ist die Entscheidung für die richtige Wachsmischung oftmals eine Lotterie“ sagt er achselzuckend.„Die Techniker mit ihrem großen Repertoire an Möglichkeiten, betreiben einen hohen Aufwand, der uns anderen Nationen gegenüber konkurrenzfähig macht“ hatte Kati Wilhelm gesagt „Ohne einen guten Ski ist bei der internationalen Leistungsdichte mit Sicherheit nichts zu gewinnen“

Heute haben die Wachser einen exzellenten Job gemacht: Drei deutsche Athletinnen kommen als erste über die Ziellinie: Andrea Henkel gefolgt von Martina Glagow. Kati Wilhelm hat sich noch auf den dritten Platz vorgekämpft. Es ist die erste Medaille ihrer von Magenproblemen geprägten WM. Und es ist ein Novum in der Biathlongeschichte: drei Sportlerinnen einer Nation stehen auf dem Weltmeistertreppchen. Das Stadion tobt. „We are the champions“ singt das Publikum in seinem ungeheuer großen Chor.   

„Es macht einfach Spaß“ jubelt Thorsten Thren euphorisch „Denn Jeder hat seinen Anteil am Erfolg – und das lassen uns diejenigen, die im Rampenlicht stehen, immer wieder spüren. Man lässt seine Familie lange Zeit allein. Wenn dann nicht im Team so ein Miteinader wäre in dem man sich wohl fühlt, dann würde man sich diesen Stress nicht antun