Camera_Chaskielberg_klein_Seite_02
Camera_Chaskielberg_klein_Seite_01
Camera_Chaskielberg_klein_Seite_03
Camera_Chaskielberg_klein_Seite_04
Camera_Chaskielberg_klein_Seite_05
Camera_Chaskielberg_klein_Seite_06
Camera_Chaskielberg_klein_Seite_07
Camera_Chaskielberg_klein_Seite_08
Camera_Chaskielberg_klein_Seite_09
Camera_Chaskielberg_klein_Seite_10
previous arrow
next arrow

Die Unsichtbaren

Er ist ein Zauberer in der Nacht, ein Jongleur der Lampen, mit denen er seine Motive aus dem Dunklen herausarbeitet. Die Protagonsiten des Fotografen Alejandro Chaskielberg – Außenseiter aus dem Paraná Delta ­– stehen dafür bis zu zehn Minuten Modell.

Der alte Man am Anleger winkt dem Boot zu, so wie es viele hier im Delta des Paraná Flusses tun. Aber irgendein unerklärlicher Impuls veranlasst Alejandro Chaskielberg sein Motorboot dieses Mal spontan zu stoppen und auf den Anleger zuzusteuern. Der hagere Mann am Steg trägt ein Schnauzbärtchen, eine überdimensionierte Brille und ein beflecktes Hemd. Auf Schritt und Tritt folgt ihm ein Hahn. Fotograf Alejandro Chaskielberg erzählt zunächst nicht, dass er auf Motivsuche ist, sondern setzt sich zu dem Mann und ein langes Gespräch beginnt. Sie trinken gemeinsam Wein gemixt mit Zitronensoda. Die Worte sprudeln unaufhörlich aus Ramón, dem Inselbewohner heraus. „Ich habe sechs Jahre im Gefängnis in Gualeguaychú gesessen“, gesteht dieser. Sein Verbrechen: Totschlag. „Mit dem Jagdgewehr traf ich meinen Nachbarn direkt in die Brust“, berichtet Ramón, „Eigentlich war der kein schlechter Mensch. Aber er hatte mein Werkzeug gestohlen und beschoss eines Nachmittags völlig betrunken mein Haus. Ich trat mit dem Gewehr vor die Tür – was sein, und mein Pech war“.

Nach der Haft zog Ramón auf eine der vielen Inseln im Paraná Delta, etwa 30 Kilometer entfernt von Buenos Aires, der argentinischen Hauptstadt. Er wurde Wachmann, legte sich statt eines Hundes einen Hahn zu, den er Pepino nannte und der ihm seitdem nicht von der Seite weicht.

Erst als die Nacht allmählich hereinbricht, bittet der Fotograf Ramón um ein Porträt. Alejandro Chaskielberg fotografiert seine Themen nämlich ausschließlich im Dunklen – vorzugsweise bei Vollmond. In jener Nacht entsteht das Foto The Three Steps des ungewöhnlichen Paares Ramón mit dem anhänglichen Pepino auf einem alten Traktor sitzend. „Dies ist eines meiner absoluten Lieblingsbilder“, berichtet Chaskielberg, „Ich versuche eine besondere Beziehung zu den porträtierten Personen herzustellen um gute Fotos zu schaffen.“

Das Bild wird aus der Dunkelheit herausgearbeitet

Seine Fotografie ist weltweit einzigartig. Die Bilder des 36jährigen Argentiniers sind in ein ganz besonderes Licht getaucht. Sie haben ihren speziellen Charakter weil das Mondlicht fast wie warmes Abendlicht wirkt und der Fotograf die wichtigen Teile des Bildes aus der Dunkelheit mit eigenem Licht herausarbeitet. Die Belichtungszeiten liegen in der Regel zwischen zwei und zehn Minuten. Das in diesem langen Zeitraum eingefangene Licht ist eine Mixtur aus Mondlicht, Blitz und Taschenlampenlicht – so geschickt kombiniert, dass die Langzeitbelichtung, die normalerweise extreme Bewegungsunschärfen zeichnet, nicht auffällt. Die Technik klingt simpel: Was sich während der Belichtungszeit bewegen kann, hat der Fotograf mit dem Blitzlicht „eingefroren“, das Mondlicht bildet ein weiches Hintergrundlicht und die Umgebung beleuchtet Chaskielberg mit verschiedenen Taschenlampen.

„Ich verwende viele unterschiedliche Lichtquellen um die Motive zu illuminieren“, erklärt Chaskielberg „Verschiedene Blitze, die weißes, gelbliches oder bläuliches Licht ergeben. Dazu einige LED-Lampen, jeweils mit einer ganzen Skala an andersartigen Weißtönen.“ Manchmal befestigt der Fotograf seine Taschenlampen oder Kompaktblitze an langen Bambusstöcken um sie näher am abgebildeten Objekt platzieren zu können. Das alles versetzt ihn in die Lage ganz selektiv bestimmte Bildteile mehr oder weniger intensiv zu beleuchten. Während der langen Belichtungszeit bewegt der Fotograf die Lampen und arbeitet so Konturen und Flächen aus dem Dunkel heraus – vergleichbar mit klassischer Maltechnik. Man fragt sich: Ist es noch Fotografie oder schon Malerei?

Mit Der Technik gegen den Strom

Alejandro Chaskielberg verwendet eine Kamera, die in den 60iger Jahren hergestellt wurde, eine Sinar Norma Großbildkamera, mit der er Negativfilm im Format 4×5 Inch belichtet. Es ist eine klassische Fachkamera mit Balgen und verschwenkbarer Optik. „Die Qualität der Prints ist unübertroffen und wird auch durch die gegenwärtigen Digitalkameras nicht erreicht“, betont der Fotograf, der seine Ausstellungsfotos in Größen ab einem Meter mal 1,40 Meter herstellt, „Irgendwie ist es schon eine romantische Idee mit der Technik gegen den Strom zu schwimmen. Ein wenig rebellisch, vor allem aber mein persönlicher Versuch die Magie des ursprünglichen fotografischen Prozesses wieder zu entdecken.“

Die Beschäftigung mit den traditionellen Wurzeln der Fotografie, wie auch die Entdeckung der Langsamkeit in der Umsetzung seiner Bilder ist eine Gegenreaktion auf den als hektisch erlebten Alltag eines Fotojournalisten. In Buenos Aires geboren, arbeitete Chaskielberg bereits mit 18 Jahren als Reporter für ein lokales Wochenmagazin. Frustriert durch einen harten Streik gegen Entlassungen in der Redaktion, wendete er sich vom aktuellen Tagesgeschäft ab und entwickelte allmählich seine persönliche Art der entschleunigten Fotografie.

Einige Jahre rührte er professionell keinen Fotoapparat mehr an, studierte Geige am Konservatorium, probierte sich im Metier Film aus. Während einiger Campingtouren mit Freunden experimentierte er des nachts mit seiner Digitalkamera: Die ersten Schritte zu seinem individuellen Stil. Als er 2007 einen befreundeten Filmemacher am Paraná Fluss besuchte, bekam er die Initialzündung.

Faszinierend waren vor allem die Individualisten

„Obwohl ich bereits mit acht Jahren im Paraná Delta war und mich die ungewöhnliche Vegetation und die braune Farbe des Flusses faszinierte, beeindruckten mich später vor allem die Menschen dort“, erzählt Alejandro Chaskielberg. In dem einsamen Labyrinth aus Flussarmen und Kanälen leben Individualisten wie Jäger, Holzfäller, Waldarbeiter oder Fischer. Einige Städter bauten sich hier Ferienhäuser auf Stelzen.

Alejandro Chaskielberg kaufte sich eine Großbildkamera und begann mit seiner Fotoarbeit „La Creciente“, was übersetzt Hochwasser heißt. Denn das riesige Gebiet – einstiges Zentrum argentinischer Früchteproduktion – wurde nach mehrmaligen verheerenden Fluten von den Landwirten verlassen. In dem Delta, das Trinkwasser für mehr als hundert Millionen Menschen liefert, wurden später Außenseiter und Nonkonformisten „angespült“.

Über den Zeitraum von zweieinhalb Jahren durchstreifte der Fotograf immer wieder das Areal per Motorboot, lernte die Protagonisten seiner Reportage an Tankstellen, Gemischtwarenläden oder Anlegern kennen. Chaskielberg: „Fotografie ist für mich ein Werkzeug zum Entdecken.“ Er teilte das Leben der Inselbewohner. Und weil der Fotograf irgendwie dazu gehörte, akzeptierte man den Fremdling und erduldete das Minuten lange Stillsitzen beim Fototermin.

Menschen, die noch nie portätiert wurden

„So weit ab vom Schuss gab es tatsächlich einige Porträtierte, die vorher noch nie fotografiert wurden“, berichtet der Fotograf, „Wenn ich Menschen auf meine Weise ablichte, finden sie das zunächst sehr merkwürdig. Aber sie vertrauten mir und am Ende mögen sie die Fotos.“ Allerdings wunderte sich der Fotograf auch darüber wie wenig Bedeutung die Inselbewohner den Fotoabzügen beimessen, die er Ihnen mitbrachte: „Interessanter als die Fotos fanden sie es, mich als Fotografen kennen gelernt zu haben.“

Vor allem während der Vollmondphasen war Alejandro Chaskielberg im Delta aktiv. „Eigentlich hat man dann nur jeweils drei bis vier Tage optimales Mondlicht und perfektes Wetter“, berichtet der Fotograf. Wenn sich nämlich dichte Wolken vor den Mond schieben, kann er seine Kamera einpacken. Jedes Foto bereitet der Fotograf minutiös vor. Ein Kompass und eine Tabelle mit den Aufgangs- und Untergangszeiten des Mondes sind dabei wichtige Hilfsmittel, mit denen er Zeitpunkt und Aufnahmewinkel kalkulieren kann.

„Auch die Digitalkamera ist dabei bedeutsam. Ohne sie würde meine Arbeit wahrscheinlich ganz anders aussehen“, hebt Chaskielberg hervor. Die perfekte Blenden-Belichtungszeitkombination zu finden ist nämlich schwierig. „Mit dem Belichtungsmesser kann ich zwar den Blitz und die Lampen messen, aber beim Mondlicht klappt das nicht“, erklärt der Fotograf. Auch die Probeschüsse mit der Digitalkamera liefern nur Anhaltspunkte, weil die digitalen Ergebnisse Unterschiede zu seiner verwendeten Technik – Fachkamera mit Negativfilm – ausmachen.  Auch wenn dem Fotografen seine Testreihen digitaler Nachtaufnahmen und Film-Entwicklungsreihen weiterhelfen – am Ende ist die Belichtung Schätzungssache. „Aber über die Jahre hinweg habe ich viel Erfahrung gesammelt und bin inzwischen ganz gut in der Lage das nächtliche Licht zu ‚lesen’ um meine Einstellungen richtig vorzunehmen“, so Chaskielberg.

ein langsamer prozeß der Selbstbeobachtung

Seine Kamera stellt er noch bei Tageslicht auf und nimmt die Grundeinstellungen vor. Speziell mit geshifteter Optik wäre die Fixierung der Schärfe im Dunklen extrem schwierig. Um ein einziges Motiv im Kasten zu haben braucht er etwa drei bis vier Stunden. „Das erlaubt mir bis zu sechs Aufnahmen zu schießen und vielleicht ein oder zwei Ausschnittsvarianten – mehr nicht.“ Der Fotograf vergleicht seine Arbeitsweise gern mit der eines Regisseurs, denn auch seine Bilder seien „Ausschnitte von unfertigen Geschichten, die als Script in meinem Kopf existieren.“ Er überlässt wenig dem Zufall. „Diese Art fotografisch zu arbeiten erfordert ein großes Maß an Vorstellungskraft wie das Endergebnis aussehen soll. Es ist im Grunde ein langsamer Selbstbeobachtungs-Prozess“, erklärt Alejandro Chaskielberg, „Meine Fotografie bewegt sich irgendwo an der Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion.“

Wenn Chaskielberg fotografiert, scheint die Zeit stehen zu bleiben, seine Modelle erstarren, die Welt steht still, hält den Atem an. Dennoch erscheint alles sehr lebendig. Chaskielbergs Fotografie gibt den Inselbewohnern eine eigenartige Zeitlosigkeit: Unbekannte Lichtquellen überschwemmen die Szenen, die unwirklich und mysteriös wirken. „Fotografie dekodiert die reale Welt und transformiert sie wie ein subjektiver Spiegel“, so Chaskielberg.

Nicht ohne Grund brachte ihm die „Hochwasser“-Serie die renommierte Auszeichnung „L’Iris D’Or“ ein. „Diese sorgfältig komponierten Bilder erzählen grundlegende Wahrheiten von harter Arbeit, Gemeinschaft und dem Überleben am Rande des Existenzminimums auf eine brillant metaphorische Weise“, so die Jury anlässlich der Verleihung. Chaskielberg erhielt weitere Auszeichnungen wie „Picture Of The Year“ für das beste lateinamerkanische Porträt 2010 und die Teilnahme am National Geographic All Roads Programm. Vom „burn. magazine“ wurde er zum aufstrebenden Fotografen ernannt.  Auch seine Fotoarbeiten über Tsunami Schäden in Fukushima und die niedergegangene Zuckerindustrie in Surinam wurden weltweit beachtet, ebenso wie etliche Ausstellungen. Er traf Martin Parr, der ihn zur Brighton Photo Biennale einlud. Das weltbekannte Mitglied der Fotografenagentur Magnum motivierte Chaskielberg dazu seine Arbeit „La Creciente“ zu komplettieren und daraus ein Buch zu gestalten.

Als gut beschäftigter Fotograf bereist Chaskielberg inzwischen den Globus für große Magazine und dokumentierte für die NGO „Oxfam“ Opfer der Hungersnot in Kenia – sämtliche Projekte sind in seinem persönlichen Stil aufgenommen und zeigen seine ganz besondere Sicht auf die Welt bei Nacht. Chaskielberg: „Fotografie kann Wirklichkeit umgestalten und eine magische Ansicht des Lebens erzeugen. Das ist ein Vorzug dieser besonderen visuellen Sprache.“

© Alle Fotos Alejandro Chaskielberg

http://www.chaskielberg.com/