Als Kurator habe ich für das Kulturhaus Mestlin hochkarätige Arbeiten zusammengestellt, Fotografien von 14 Fotograf*innen, die fast alle mit nationalen und internationalen Auszeichnungen geehrt wurden – vom Otto-Steinert-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie bis zum World Press Preis. Auf etwa 160 Metern Wandlänge findet sich – ungewöhnlich präsentiert – ein Spektrum an Fotoserien, die sich zwischen Kunst und klassischer Reportage einordnen lassen und in der Regel über viele Wochen und Monate erarbeitet wurden. Allesamt mit Bildern, die Geschichten erzählen. Einige, bei den führenden Printmedien aktuell angesagten Fotojournalisten sind vertreten, aber auch junge Abgänger von Fotoschulen sind mit bemerkenswerten Essays dabei. 

Der Titel „Schein oder Sein“ entstand im inhaltlichen Zusammenhang mit dem parallel laufenden Theaterfilm „Des Kaisers neue Kleider“. In beiden Genres geht es um Eitelkeit, Wandel, Macht, Illusionen, aber auch um positive menschliche Werte. Daher habe ich im Kulturhaus eine Schein- und eine Sein-Welt räumlich getrennt gestaltet. Klinisch reine Bürowelten, Waffenmessen und mediale Selbstdarsteller spiegeln sich in den Fotos der Scheinwelt wider. Im anderen Trakt des Kulturhauses dagegen präsentiert sich eine menschliche Umgebung, die Sein-Welt, die von Ursprünglichkeit und sozialen Experimenten geprägt ist.

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DIE BILDSERIEN

Tamara Eckhardt „Die Kinder von Carrowbrowne“

Die „Traveller“ sind Irlands größte Minderheit. Als traditionelles fahrendes Volk reisen sie durch das Land und werden deshalb geächtet. Die Berliner Fotografin Tamara Eckhardt hat eine kleine Gruppe besucht, der man am Stadtrand von Gallway neben der Mülldeponie einen Halteplatz eingerichtet hat. Sie hat die Facetten des täglichen Lebens der Traveller-Kinder in wunderbaren Bildern eingefangen.

Rafael Heygster „I died 22 times“

Zum Fuhrpark eines polnischen Airsoft-„Spielfeldes“ bei Brozek gehört auch ein ausrangierter, russischer T55-Panzer. Zur Gaudi der Teilnehmer werden Rundfahrten mit dem Kampffahrzeug angeboten.

Zwei junge Damen beobachten die Life-Demonstratation Tschechischer Streitkräfte am “Familientag” der IDET, einer Rüstungsmesse in Brünn, Tschechien. Das inszenierte Feuergefecht mit Platzpatronen und Rauchgranaten beinhaltet auch, dass Schauspielende Soldaten “erschossen” werden. Nach der Verführung stehen alle wieder auf und verlassen lebend die Arena.

„Ich starb 22 mal“, nennt der Fotojournalist aus Hannover sein Foto-Essay, das sich mit der Frage beschäftigt wo Krieg anfängt. Er hat Orte besucht, an denen Krieg gespielt wird: Waffenmessen inszenieren zur Präsentation von Kriegsgeräten aufwändige Schlachtszenarien. Seine Fotos zeigen zudem die dubiose Freizeitbeschäftigung Airsoft. In der Freizeit „beschießen“ sich Spieler mit Plastikkugeln aus Waffenrepliken. Die unterschiedlichen Schauplätze haben eines gemeinsam: „Krieg“ wird als etwas Unterhaltsames und gleichzeitig Harmloses zelebriert. Niemand stirbt. Krieg wird dadurch konsumierbar gemacht

Sandra Hoyn „Kämpfen für ein Almosen“

Thaiboxen zählt zu den härtesten und gewalttätigsten Kampfsportarten der Welt, was oft mit schweren Verletzungen verbunden ist. Auch Kinderkämpfe sind zur Belustigung von Touristen und wettenden Einheimischen üblich. Mit der Reportage der Hamburger Fotografin Hoyn ist man mittendrin. Für einen Hungerlohn gehen Kinder an ihre körperlichen und geistigen Grenzen. Ein Mindestalter gibt es nicht. Nur Wenige erreichen den Status eines vergötterten Boxprofis und verdienen das große Geld.

Helge Krückerberg „Geblieben“

Diplomarbeit von Helge Krückeberg Kommunikationsdesign / Fotografie FH Hannover – Fakultät III – Medien, Information und Design Juli 2008

Deutsche Mennoniten in Sibirien. Die Reportage spielt im Dorf Solnzewka, irgendwo zwischen der russischen Taiga und der kasachischen Steppe, 150 km westlich von Omsk. Hier leben deutschstämmige Menoniten, die sich bereits im 16 Jahrhundert auf die Flucht machten um der gewalttätigen Verfolgung durch die Römisch-Katholische Kirche zu entkommen. Die Fotoserie zeigt in wunderbar zeitlosen Bilder, ihr schlichtes, aber zufriedenes Leben zwischen Arbeit und dem tiefen Glauben. So, wie sie es seit Jahrzehnten tun, und so, wie es ihre Vorfahren schon vor über 100 Jahren getan haben.

Helena Lea Manhartsberger und Rafael Heygster „Corona Rhapsody“

Seit dem Ausbruch der Corona Pandemie stellt sich den beiden Fotograf*Innen immer wieder die Frage, die Sänger Freddy Mercury im Song „Bohemian Rhapsody“ stellt: „Ist es reales Leben? Oder ist es Fantasie?“ In ihrer Corona Rhapsody drücken sie dieses Gefühl in eindrucksvollen Bildern aus. Die Betrachter sind ebenso verunsichert. Tatsächlich ist aber reales Leben fotografiert. Durch den raffinierten Einsatz von Blitzen erwecken die Fotos lediglich den Eindruck des Künstlichen. Eingefangen wurden viele Szenen in Deutschland. Bilder, die in den Medien kaum zu finden sind. Manhartsberger und Heygster zielen mit Ihrer Arbeit auf die Widersprüche zwischen der eigenen subjektiven Beobachtung, der medialen Darstellung und der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Pandemie ab.

Florian Müller „Hashtags Unplugged“

Instagram ist ein Freiraum, der alle Formen von Selbstdarstellung zulässt. Hier kann jeder sein, wie er sich selbst sieht. Der Fotograf aus Hannover machte den Abgleich mit der Realität und erkundete fotografisch welche Menschen hinter der digitalen Fassade stecken. Er hat Online-Akteure, die sich Draphiee, Pomshine und Fleischbasar nennen, in ihrem Alltag begleitet und ein sehr aufschlussreiches und breites Abbild dieser speziellen Szene geschaffen.

JÖRG MÜLLER „LITKOWKA“

Asien, Russland, Sibirien, Oblast Omsk, Litkowka, deutscher Ort, Nachfahren deutscher Auswanderer, frisch verheiratetes russlandeutsches Paar nach der Heuernte, Russia, Siberia, Litkowka, German village, descendants of German emigrants, 04.08.2016 © Jörg Müller / SEEN@CLAIRbyKahn / Goethe-Institut

Das Dorf Litkowka mit seinen liegt extrem abgelegen weit hinter Omsk in Sibirien. Jörg Müller beobachtet das einfache, stille Leben der knapp 500 Russlanddeutschen. Im Gegensatz zu manchen verfallenen Dörfern haben sich die Einwohner ein traditionelle Musterdorf geschaffen. Dank Milchwirtschaft und Selbstversorgung haben sie hier ein zufriedenes Auskommen, das eine Auswanderung nach Deutschland nicht verlockend macht.

Daniel Niedermeier und Jan Staiger „Simili Modo“

Übungsstadt Schnöggersburg auf dem Truppenübungsplatz Altmark, Sachsen-Anhalt

Ein Modell zur Intubation von Pferden in der Tierärztlichen Hochschule Hannover, das militärische Trainingsgeände in der Altmark und ein RealCare-Baby zur „echten“ Erfahrung einer Elternschaft für Jugendliche an der Schweizer Universität Fribourg: In Scheinwelten und Laboren wird die Realität geprobt. Fehlervermeidung ist die oberste Prämisse. Als isolierte Systeme ahmen sie Gesetzmäßigkeiten nach und sind Schnittstellen zwischen Natürlichkeit und Modifizierung. Solche simulierten Welten haben die beiden Dokumentarfotografen aus Hannover abgebildet – in einer Bildsprache, die oftmals selbst wie eine Simulation wirkt.

Dirk Opitz „Mit 66 Jahren …“

„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.“ Dirk Opitz folgt dem Klassiker von Udo Jürgens und untersucht das Leben in der heutigen Gesellschaft, im sogenannten Dritten Lebensabschnitt – dem Unruhestand, wie mancher ihn nennt. Viele Alte sind aktiv und unternehmungslustig, weit entfernt von gesellschaftlicher Isolation. Der Göttinger Fotograf entführt uns ganz sensibel in die weite Welt einer ganzen Generation.

Thilo Nass „Silberbilder“

Thilo Nass ist einer der ganz wenigen Fotografen, die mit einer historischen Plattenkamera fotografieren. Seine Arbeiten entstehen auf Glas- und Metallplatten mit Hilfe von Silbersalzen. Doch seine überlieferte Arbeitsweise ist nicht von gestern sondern brandaktuell. Inne halten, sich Zeit nehmen, Wert auf hochwertige Unikate legen – all das steckt in seinen ganz eigenen Porträts. Sie zeigen die hohe Kunst des Porträtierens und eine spezielle Ästhetik mit exterm scharfen und besonders unscharfen Bildbereichen. Thilo Nass über Porträts: „Unser Leben steht uns ins Gesicht geschrieben. Ein Blick in die Augen eines Menschen ist die Tür in sein Innerstes.“

Gerald Sagorski „Bertas Reise“

Berta an der alten Eisenbahnbrücke in Dömitz. 1870 war der erste Spatenstich zur Erbauung der Brücke. Am 18. Dezember 1873 befuhr der erste Personenzug die neue Brücke. Am 20. April 1945 wurde die Brücke durch einen Angriff alliierter Bomber zerstört . Seidem steht dies rostende Denkmal an der Elbe. 2010 wurde die Brücke an eine niederländische Firma versteigert.

Das Huhn Berta macht eine Tour entlang der einstigen deutsch-deutschen Grenze, besucht die Atomanlage in Gorleben und die alte Eisenbahnbrücke von Dömitz. Gerald Sagorski, Fotojournalist und ehemaliger Bildredakteur beim Spiegel, beweist mit seinen Bildern, dass Fotografie humorvoll sein kann – zum Gackern.

MANFRED SCHARNBERG „ZU“

Die Bildserie entstand zum ersten totalen Lockdown im März 2020, als Freiberuflern wie Manfred Scharnberg eine normale journalistische Arbeit nicht möglich war. Deshalb dokumentierte er die menschenleere Innenstadt von Schwerin in der alles geschlossen war.

Abgesperrte Sitzbänke im Schweriner Einkaufszentrum „Marienplatz Galerie“

Jakob Schnetz „People Place Technology“

Wo Menschen durch Technologie ersetzt werden, dort hat Jokob Schnetz aus Hannover ganz genau hingesehen. Der Fotojournalist wirft mit seinem Foto-Essay einen kritischen Blick auf den aktuellen Wandel der Lohnarbeit in deutschen Unternehmen des Dienstleistungs- und IT-Sektors. Die Arbeit ist der Lebensmittelpunkt vieler Menschen. Doch mit der Digitalisierung bekommt der Wirtschaftsfaktor Mensch – „Human Resources“ im Fachjargon – eine ganz neue Bedeutung: Unternehmen haben erkannt, dass sich in der Arbeitswelt 4.0 die Effizienz der Arbeit steigern lässt und zugleich Kosten gesenkt werden können, indem Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze immer flexibler gestaltet werden.

Marlena Waldthausen „Noiva Do Codeiro“

Noiva do Codeiro ist eine brasilianische Dorfgemeinschaft, in der heute Frauen die Macht haben. Es gibt keine Gewalt und keine Kirche, keine Hierarchien, keine Privilegien. Und die zentrale Figur des Dorfes ist eine bescheidene alte Dame: die Matriarchin Delina. In ihrem Dorf werden Streitigkeiten nicht vor Gericht ausgetragen, sondern in langen Diskussionen gelöst. Jeder verdient das Gleiche. Bei kleinen und größeren Investitionen hilft jeder mit, was er kann. Homosexuelle Liebe ist genauso akzeptiert wie heterosexuelle. Kinder werden reihum betreut, Ältere und Kranke werden umsorgt. Die Berliner Fotografin Waldthausen hat dieses besondere Leben eindrucksvoll fotografisch und filmisch festgehalten.